Ein schiefgegangenes Argument: Die Sarrazindebatte verliert den Fokus

By Spencer Brown

Die Veröffentlichung Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010) steht unter bedeutungsvollen Ereignissen der jüngeren Geschichte der deutschen Öffentlichkeit. Das Buch trat auf die Zehen einer großen Auswahl gesellschaftlicher Gruppen, von den Muslimen, den Sozialhilfeempfängern, bis zu den Politikern selbst. Seine Behauptungen bezüglich der biogenetischen Vererbbarkeit der verschiedenen persönlichen Eigenschaften haben auch den Zorn der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Trotzdem demonstriert der große Erfolg des Buches, dass seine Ansichten Resonanz in der Öffentlichkeit hervorgerufen haben. Tatsächlich hat eine kurz nach der Veröffentlichung des Buches durchgeführte Umfrage gezeigt, dass achtzehn Prozent der Befragten für eine von Sarrazin geführte Partei stimmen würden (FAZ 2010)1. Unabhängig davon, ob sein Argument fundiert ist oder nicht, zeigt die Beliebtheit des Autors, dass seine Bedenken und die Bedenken seiner Anhänger angesprochen werden müssen, und nicht sofort abgewiesen werden können.

Ich bin der Meinung, dass wir acht Jahre später von einer Obduktion des Gesagten profitieren würden. Deswegen habe ich sowohl den Inhalt des Buches selbst als auch den umgebenden Streit erforscht. Sofort auffällig war ein übermäßiger Fokus auf die Behauptungen bezüglich der genetischen Vererbbarkeit der persönlichen Eigenschaften und ein entsprechendes Ignorieren anderer wichtiger Aspekte von Sarrazins Argument. Deutschland schafft sich ab enthält normative Aussagen über die Notwendigkeit der nationalen Identität, Behauptungen bezüglich des Verlusts der persönlichen Verantwortung wegen der Abhängigkeit von Sozialhilfe, Analysen des demografischen Niedergangs Deutschlands, die nichts mit der Einwanderung zu tun haben sowie die sehr bekannten und umstrittenen Aussagen über die gescheiterte Integration der Muslime. Es ist eigentlich ein großes Versäumnis, dass viele Diskussionsteilnehmer sich auf die Frage der Vererbung konzentrieren, weil sie dabei wichtige Diskussionsbereiche Sarrazins ehrgeiziger (wenn auch fraglicher) Hypothesen vernachlässigen. In diesem Aufsatz werde ich versuchen, Sarrazins Argument zu skizzieren, um festzustellen, welche Rolle die Frage der Erblichkeit darin spielt. Dann werde ich diskutieren, inwiefern Sarrazin Recht hat. Und ich werde argumentieren, dass der Hyperfokus auf die Frage der Erblichkeit vom Kern des Arguments ablenkt.

Der Inhalt Sarrazins Argument

Laut Sarrazin ist die Abschaffung Deutschlands ein Problem des Geburtenrückgangs der einheimischen Bevölkerung in Kombination mit der Masseneinwanderung fruchtbarer Ausländer. Dass die Deutschen sich unterhalb der Ersatzrate reproduzieren ist einfach wahr. 2 Ebenso ist es leicht zu sehen, dass deutsche Frauen weniger Kinder als ausländische, in Deutschland wohnende Frauen bekommen (Nothofer und Venohr 2016). Wenn man Deutschland als das Land der Biodeutschen definiert, wäre diese angebliche Abschaffung eine mathematische Binsenweisheit. Sarrazin scheint so zu denken: „ein Land aber ist das, was es ist, durch seine Bewohner und deren lebendige geistige sowie kulturelle Traditionen. Ohne die Menschen wäre es lediglich eine geografische Bezeichnung“ (Sarrazin 2010, 7). Noch umstrittener ist Sarrazins Verdinglichung des deutschen Volkes, dem er Merkmale wie Fleiß und Tüchtigkeit zuschreibt. Diese Merkmale, so Sarrazin, würden durch die Zuwanderung von sich anders verhaltenden Menschen, Muslime insbesondere, verdünnt werden.

Die aus Migration resultierende Verdünnung ist jedoch nur ein Obeflächenphänomen. Sarrazin beobachtet auch zugrundeliegende maladaptive Vermehrungsneigungen, die sich entwickelt haben, wegen der perversen Anreize des Sozialstaats. Kurz gesagt vermehren sich die Dummen durch den Wohlfahrtstaat schneller als die Intelligenten, weshalb sich „die Bildungsfernen Milieus und die Unterschichtphänomene verfestigen“ (ebd. 77). Obwohl es seltsam erscheinen mag, dass ein Sozialdemokrat eine solche Skepsis gegenüber dem Sozialstaat bekundet, kommt seine Überzeugung aus einem Glauben an den inhärenten Wert der Arbeit. Er sagt „es ist in erster Linie gar nicht so wichtig, was man arbeitet und was man dafür bekommt. Entscheidend für das Selbstgefühl und die persönliche Zufriedenheit ist das Bewusstsein, den eigenen Unterhalt und den der Familie bestreiten zu können, und der Zwang zur disziplinierten Lebensführung,“ und argumentiert dabei gegen die Abhängigkeit von Sozialhilfe, weil sie geistige Armut fördert (ebd. 154). Trotz der wütenden Reaktion dem Buch gegenüber sind Sarrazins praktische und politische Empfehlungen keineswegs radikal. Nach den Professoren Rindermann und Rost sind Sarrazins „diesbezüglichen Anregungen…vernünftig.“ Sie „unterscheiden sich wenig von denen, die in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion auch von anderen geäußert werden (z. B. mehr Krippen; mehr und bessere Kindergärten; intensivierte Sprachförderung; Ganztagsschulen)“ (Rindermann und Rost 2010).

Die Natur der Kritik
Hans-Ulrich Wehler hat die unmittelbar nach der Veröffentlichung gemachte Kritik so beschrieben: „Anstatt die Zuwanderungsprobleme endlich ohne Scheu zu diskutieren, verstecken sich bisher die meisten Kritiker hinter der hohen Mauer ihrer Einwände gegen Sarrazins Rückgriff auf die Erbbiologie“ (Wehler 2010). Nur Tage nach der Veröffentlichung haben die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident und Sarrazins eigene Berufskollegen ihn denunziert.  Auf Sarrazins Anschuldigung, die Einwände gegen seine Argument sei eher politisch als empirisch geerdet, schrieb der SPD Vorsitzender Sigmar Gabriel in der Zeit: „Wie weit muss man sich intellektuell verirren, um die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig auszublenden, obwohl sie natürlich der grauenhafteste ’empirische Befund’ waren, den man für die Unzulässigkeit derartiger ‘Fragestellungen’ finden kann“ (Gabriel 2012). Innerhalb einer Woche wurde Sarrazin von seiner Mitgliedschaft des Vorstands der Deutschen Bundesbank ausgeschlossen, obwohl diese Vertreibung als ein freiwilliger Austritt dargestellt wurde. Auch der Verlust seiner beruflichen Stelle war nicht genug: zehn Tage nach der Veröffentlichung hat der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, diesen Kompromiss (dass Sarrazin erlaubt wurde, seine Stelle freiwillig zu verlassen, ohne entlassen worden zu sein) als faul, als „eine Schande für das ganze Land“ und als „eine politische Bankrotterklärung“ bezeichnet (FAZ 2010).

Wehlers Beschreibung der sogenannten Kritiken als „Diskussionsverweigerung“ wird auch durch die Aussage der WDR-Journalistin Asli Sevindim gut veranschaulicht, die während einer Live-Debatte in der Fernsehsendung Hart aber Fair sagte: „Ich würde mich eigentlich mit dem Sarrazin gar nicht auf eine inhaltliche Debatte einlassen, weil ich finde, Sie leisten keinen inhaltlichen Beitrag [sic]“ (Plasberg 2010, 14:43-14:50). Trotz der Unterstützung einiger öffentlicher Figuren, vor allem der Sozialwissenschaftlerin Necla Kalek (Seibel et al 2011), schrieb Wehler so über das allgemeine Klima der Debatte: „Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen, wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat“ (Wehler 2010). Als seine Thesen schließlich zur Debatte gebracht wurden, wurde die Diskussion in die Ecke der Fragen der Erblichkeit gedrückt. Während seines Auftritts im Hart aber Fair, gab Sarrazin eine strenge und klare Erklärung seiner Ansicht und sagte, „dass die Unterschiede der muslimischen Migranten zu anderen Migranten eben gerade keine ethnischen Ursachen haben,“ und dass „sie…im Gegenteil kulturelle Ursachen“ haben. Ein besonders anschauliches, von Sarrazin beschriebenes Beispiel dieses Punkts sind die abweichenden Ergebnisse der Integration der genetisch nicht unterscheidbaren Inder und Pakistaner im Vereinigten Königreich (Plasberg 2010, 16:45-17:20). Trotz der relativen Unwichtigkeit der Frage der Erblichkeit, und trotz der breiten Palette anderer inhaltsreicher und diskussionswürdiger Aspekte vom Buch konzentriert sich die Debatte auf Sarrazins Glauben, dass die Intelligenz von genetischen Faktoren beeinflusst wird.

Die Richtigkeit der Behauptungen bezüglich Erblichkeit

Zwar ist das sicherlich für Sarrazins Gegner eine enttäuschende Erkenntnis, aber seine Behauptungen bezüglich der Vererblichkeit der Intelligenz sind im Wesentlichen gültig. Die Wissenschaftler Heiner Rindermann und Detlef Rost, die die Übereinstimmung zwischen Deutschland schafft sich ab und seinen Quellen überprüften, haben „nennenswerte Fehler“ nicht gefunden. Tatsächlich „scheint Sarrazin das, was er in psychologischen Fachbüchern gelesen hat, im Wesentlichen verstanden zu haben“ (Rindermann und Rost 2010). Diese Fachmänner haben auch bestätigt, „dass sich Intelligenzunterschiede von Menschen zu fünfzig bis achtzig Prozent durch genetische Faktoren aufklären lassen“ (ebd).

Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, obwohl sie Sarrazins Zitieren ihrer Arbeit als „aus dem Kontext gerissen und nicht korrekt wiedergegeben“ beschreibt, fechtet seine Zahlen selbst—die berüchtigten fünfzig bis achtzig Prozent—nicht an. Sie macht jedoch eine wichtige Kritik: „Er redet von 50 bis 80 Prozent Erblichkeit bei der Intelligenz. Das macht aber wissenschaftlichen keinen Sinn. Man muss von Erblichkeit von Intelligenzunterschieden sprechen.“ (Stern 2010, kursiv mein). Diese Unterscheidung ist nicht nur semantisch. Im Gegenteil ist es für den Kern der Genetikwissenschaft entscheidend, dass man nicht allgemein über Erblichkeit sprechen kann, sondern nur über den Varianzanteil zwischen Organismen in einer bestimmten Bevölkerung, der auf die Genetik zurückgeführt werden kann. Das heißt, wenn Bedingungen gleich sind, müssen alle Unterschiede von genetischen Eigenschaften stammen. Wenn die Genetik gleich ist (wie im Fall der Zwillinge oder Klone), kommen Wissenschaftler zum Schluss, dass Unterschiede auf Umgebungsbedingungen zurückzuführen sind. Obwohl Sterns Aussage wissenschaftlich unanfechtbar ist, impliziert sie falsch, dass Sarrazin diese Unterscheidung nicht begriffen hat. Sarrazins Verständnis davon spiegelt sich in seinem Zitat von Stern tatsächlich wider: „dass die optimale Förderung eines jeden Schülers nicht zu mehr Gleichheit, sondern zu mehr Ungleichheit führt. Denn je größer die Chancengleichheit, desto mehr schlagen die Gene durch. Eine gute Schule, das mag nicht jedem gefallen, produziert Leistungsunterschiede auf hohem Niveau“ (ebd).

Andere Expertenquellen bestätigen auch die Richtigkeit von Sarrazins Verständnis der gegenwärtigen Intelligenzforschung, obwohl die Schätzungen der Erblichkeit zwischen den einzelnen Studien variieren (Plomin et al 1997; Bouchard and McGue 2003). Zum Beispiel haben die 52 Unterzeichner der wissenschaftlichen Redaktion „Mainstream Science on Intelligence: An Editorial with 52 Signatories, History and Bibliography“ ähnliche Schätzungen zitiert: „Heritability estimates range from 0.4 to 0.8 (on a scale from 0 to l), most thereby indicating that genetics plays a bigger role than does environment in creating IQ differences among individuals.“ (Gottfredson 1997). Zwei Fragen stellen sich: warum wurde Sarrazins Darstellung dieser Thematik in den Medien mit solcher Skepsis und mit solchem Zweifel aufgenommen? Und warum haben Sarrazins Gegner sich mit der Aufgabe belastet, einem der stärksten Aspekte seines Arguments zu kritisieren?

Warum diese Gelegenheit für eine sachliche Diskussion verloren ging

Hans-Ulrich Wehler zählt mehrere Themen auf, mit denen dich Sarrazin ausführlich befasst hat, wie soziale Ungleichheit, Bildungspolitik und Demografie, die von den Kritikern gar nicht angesprochen wurden. Persönlich würde ich den Kritikern auch einige zusätzliche Themen Sarrazins als diskussionswürdig empfehlen: z.B. die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung der deutschen Identität, die besondere Bedrohung der Zuwanderung der Muslime und die heterodoxe Behauptung des Sozialdemokraten, dass Sozialhilfe geistige Armut fördert. Und doch bleibt die Diskussion in der Erblichkeit stecken.

Mich hat das an eine frühere öffentliche Debatte erinnert: die berüchtigte US-amerikanische Bell Curve Debatte der 90er Jahre. Wie bei der Sarrazin Affäre haben sich die Kritiker nur mit dem kleinsten Stück der Argumentation der Autoren befasst, das im folgenden Zitat zusammengefasst werden kann: „It seems highly likely to us that both genes and environment have something to do with racial differences.“ (Murray and Herrnstein 1994). In der daraus resultierenden moralischen Panik haben sich die Kritiker und Diskussionsteilnehmer erlaubt, die wichtigsten, strittigsten und auch am schwersten zu bewältigenden Implikationen der Argumentation zu ignorieren. Im Trubel ging die düstere Entdeckung verloren, dass Intelligenz nicht nur mit Bildungsversagen und Beruf, sondern auch mit Einkerkerung, Arbeitslosigkeit, Ehescheidung und Fettleibigkeit stark korreliert—das heißt, dass ungleiche Intelligenz viele verschiedene gesellschaftliche Ungleichheiten untermauert. Anstatt diese wichtige Entdeckung zu verwenden, um die öffentliche Politik zu prägen, oder zumindest das Verdienst der Thesen Murrays und Herrnsteins bezüglich der Angeborenheit der Intelligenz zu debattieren, wurden Kritiker durch ihr Unbehagen über die möglichen Implikationen der Forschung geblendet. Auch 25 Jahren später werden Murrays Vorträge noch von Linksradikalen unterbrochen, obwohl seine zentralen Punkte noch nicht widerlegt wurden.

Ein analoges deutsches Beispiel ist das des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der „auf die Problematik der deutschen ‘Unterschichten’ hinwies“ (Wehler 2010). Als Antwort darauf „übertrafen sich Repräsentanten der politischen Klasse, und zwar unisono von rechts bis links, prompt mit der geradezu reflexartigen Behauptung, Unterschichten gäbe es im Land der Sozialpartnerschaft doch gar nicht mehr“ (ebd.). Stattdessen haben die Mächtigen den Euphemismus „Prekarität“ geprägt und ein Simulacrum für Diskussion und Probleme lösen eingesetzt. Noch einmal drehte die Debatte sich um den Stil und die Semantik. Noch einmal bevorzugten die, die verantwortlich sein sollen, Empörung statt Substanz. Obwohl die Vermeidung dessen, was wir fürchten, menschlich ist, ist das Versagen des öffentlichen Diskurses einfach keine Option. Die Sensationsgier und die Kultur der Empörung sorgen dafür, dass die zunehmende Spannung und Polarisierung der Gesellschaft dringender und sprunghafter wird.

Fürchtet euch nicht vor der Wahrheit

Solche Vermeidung weist fälschlicherweise darauf hin, dass diejenigen, die Sarrazin entgegentreten wollen, kein sachliches Argument bieten können. Ich hoffe jedoch, durch ein Beispiel zu zeigen, wie Sarrazins Argumentation herausgefordert werden könnte. Sarrazins Beharren, dass Deutschland ethnisch Deutsch bleiben muss, basiert auf der folgenden Behauptung: „Andererseits ist es überhaupt nicht möglich, zu Urteilen zu kommen, Zustände zu bewerten und notwendige Veränderungen zu formulieren, wenn man sich kein eigenes normatives Bild von der Gesellschaft macht“ (Sarrazin 2010, 17). Ein solches gemeinsames Bild wird immer schwieriger zu schaffen sein, laut Sarrazin, wenn die Bevölkerung uneinheitlich bezüglich moralischer Einstellungen ist, und die Zuwanderung  könnte deshalb gefährlich sein. Es ist deshalb sehr bedrohlich, dass „sich um Deutschland als Land der Deutschen Sorgen zu machen, fast schon als politisch inkorrekt” gilt, weil die Bevölkerungsstruktur einflussreich auf den Erfolg der Gesellschaft ist (ebd. 18). Seine Überzeugung, dass Europa „auch in 100 Jahren noch aus Nationalstaaten bestehen“ wird (ebd. 19), untermauert seine anderen Behauptungen bezüglich der Gefahr Deutschlands. Diese Annahmen sind anfechtbar. Obwohl ein solches gemeinsames normatives Bild tatsächlich notwendig für eine funktionelle Gesellschaft sein könnte, ist es trotzdem fragwürdig, ob Sarrazins Bild mit dem des deutschen Volkes zusammenpasst. Und obwohl es sein könnte, dass Nationalstaaten nach 100 Jahren noch existieren werden, muss man nachfragen, ob sie die gleiche Rolle spielen werden oder in bestimmten Funktionen übertroffen werden.

Es könnte auch in Frage gestellt werden, ob zu Recht gesagt werden kann, dass es in Deutschland irgendein gemeinsames normatives Weltbild oder gemeinsame Werte überhaupt gibt. Laut Grabbert und Lange (2011) entspricht nicht „diese von Sarrazin vorgenommene pauschale Strukturierung der deutschen Gesellschaft in wertekonforme Leistungsträger, deviante Transferhilfeempfänger und integrationsunwillige und -unfähige muslimische Migranten…den empirischen Erkenntnissen über die deutsche Gesellschaft“ (Grabbert & Lange, 2011, 8). Stattdessen „beobachten Soziologen schon seit vielen Jahren eine zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft sowie eine Pluralisierung der Lebensformen“ (ebd. 8-9). Die Forscher führen wichtige Beweise an, dass Sarrazins Bild der deutschen Gesellschaft entweder eingebildet ist oder grundlos angenommen werden muss, weil die angebliche Leitkultur Deutschlands tief zerspalten ist. So ist es auch tatsächlich mit dem der Migranten (ebd 10-11). Kurz gesagt gibt es keine solche Homogenität und auch keinen kulturellen Konsens mehr bezüglich der vorherigen Prüfsteine der gemeinsamen Identität.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot, deren jüngstes Buch Die Europäische Republik eine optimistische Sicht auf eine postnationale Zukunft skizziert, scheint ähnlich zu denken. Ihr Aufruf zum Regionalismus, zum Europäismus, zu den postnationalen, wertebasierte Formen von Identifizierung basiert auf einer angenommenen Formbarkeit der Identität. Diese Formbarkeit gilt besonders in solchen Zeiten wie jetzt, in denen die ehemals stabilen und unbestrittenen Grundlagen der Gemeinschaft in Frage gestellt werden. Während Sarrazinauf die unwiederbringliche Vergangenheit schaut, erkennt Guerot, dass die Prekarität und die Unsicherheit aktueller Identitäten eine Chance zur Veränderung bieten. Nach der Aussage Spinozas: „Die Natur kennt kein Volk“ (Guerot 2018), und was konstruiert wird, kann rekonstruiert werden. Sarrazin selbst scheint manchmal die Sinnlosigkeit seiner eigenen Suche zu erkennen, besonders mit der folgenden emblematischen Aussage: „Wie ein Fluss ändert sich der Strom der Geschichte beständig und kehrt niemals in sein altes Bett zurück“ (Sarrazin 2010, 19).

Fazit

Sarrazins biologischer Determinismus—der eigentlich nicht streng biologisch ist, angesichts seiner Betonung auf die kulturellen Faktoren des Scheiterns der Integration der Muslime im Vergleich zu anderen Migrantenbevölkerungen—ruft ein aufgeladenes Thema auf: die angeborenen Ungleichheiten der Menschen. Solche Ansichten zu veröffentlichen ist jedoch an sich eine erstrebenswerte Bemühung, denn „wenn [man] dabei die Natur des Menschen und die tatsächlichen soziologischen und psychologischen Wirkungszusammenhänge vernachlässigt oder falsch einschätzt, lebt und agiert [man] in einem Zerrbild“ (Sarrazin 2010, 11). Ohne die Berücksichtigung der menschlichen Ungleichheit können die unterschiedlichen Erfolgsraten der Menschen und der menschlichen Bevölkerungen als unterdrückend oder ungerecht bewertet werden. Ohne die Ermöglichung und die Normalisierung solcher Gespräche wird der zwischen den Klassen entstandene Groll verstärkt. Ohne uns mit den Tatsachen zu befassen, können wir gar nicht unsere künftige Politik bestimmen.

Der große Wert dieses Themas ist jedoch mit einer wohlbekannten Gefahr verbunden. Liberale Menschen machen sich Sorgen, dass ihre Doktrin und moralischen Axiome von der tatsächlichen Gleichheit abhängen. Wenn festgestellt wird, dass Einzelpersonen angeborene, ungleiche Eigenschaften haben, könnten die ‘niedrigeren’ Leute nach diesem Missverständnis der Moral diskriminiert werden. Diejenigen, die die Grauen des 20. Jahrhunderts fürchten, sorgen sich zu Recht, dass die Vergangenheit sich wiederholen könnte. Obwohl es immer wichtig ist, sich diesen Gefahren bewusst zu sein, sollten wir uns auch an die Aussage des Sozialwissenschaftlers Stephen Pinker erinnern: „Equality is not the empirical claim that all groups of humans are interchangeable; it is the moral principle that individuals should not be judged or constrained by the average properties of their group.” (Pinker 2002). Die Beschreibung der Wirklichkeit kann keineswegs irgendeine moralische Verpflichtung implizieren. Das heißt, man kann den Liberalismus schützen und wahren, ohne an die tatsächliche Gleichheit zu glauben. Unsere Moral und Werte entstehen aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus dem Liberalismus und dem Humanismus. Beide basieren nicht auf einer biologischen Basis, sondern auf einer Ethik. Tatsächlich sind die mit böswilliger Absicht vorgebrachten Argumente, mit denen das Buch konfrontiert wurde, ein heftigerer Angriff auf den Liberalismus als das Buch selbst. Laut Wehler war die sofortige Reaktion auf das Buch „eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit“ (Wehler 2010). Die Vorwürfe und Implikationen, dass “Deutschland schafft sich ab” aus bösen Motiven veröffentlicht war, könnten, nach dieser Ansicht, einen ‘chilling’ Effekt erzeugt haben. Auch wenn das nicht gegen das Prinzip der Meinungsfreiheit verstößt in dem Sinne, dass Sarrazin noch frei zu veröffentlichen bleibt, scheinen die weitverbreiteten und unehrlichen Denunziationen dem liberalen Geist zu widersprechen. Ohne eine lebendige, furchtlose, öffentliche Debatte werden alle anderen gesellschaftliche Werte, die wir schätzen, erstickt werden.

Obwohl die Debatte bezüglich der menschlichen Ungleichheit erforderlich ist, muss ich auch nochmal unterstreichen, dass dieses Thema eigentlich nebensächlich ist. Sarrazins Hauptpunkte umfassen sehr viel mehr als die einfachen und wissenschaftlich gut gestützten Behauptungen, dass die eigenen persönlichen Eigenschaften teilweise vererblich sind und, dass infolgedessen Einzelpersonen und ja Bevölkerungen ungleich sein müssen. Ich habe versucht, oben zu zeigen, dass beispielsweise Sarrazins Hinweis und Vertrauen auf die deutsche Identität eine problematische Grundlage für seine Argumentation ist in dem Sinne, dass eine solche Identität in Deutschland nicht mehr vorhanden ist. So auch bezüglich des angeblichen Konflikts der Werte, der aus der muslimischen Zuwanderung entstanden sein soll, das zeigen Grabbert und Lange (2011), wenn sie schreiben, dass es irgendeine Einheit der muslimischen Meinungen oder Weltanschauungen einfach nicht gibt.

Man könnte Sarrazin leichter und produktiver herausfordern durch die Auseinandersetzung mit solchen Aspekten seines Arguments, als durch die sinnlose Bekämpfung anerkannter wissenschaftlicher Thesen wie die Erblichkeit der Intelligenz. Zusätzliche Bereiche, die man wirksamer kritisieren könnte, sind Sarrazins Zurückweisung des Sozialstaats, oder seine Empfehlungen in Bezug auf Bildungspolitik oder die Subventionierung der Vermehrung der bürgerlichen Schichten (und entsprechende Entmutigung der Züchtung der Armen). Das hartnäckige Beharren, dass die Wahrheit unwahr, diskreditiert, und tatsächlich böse ist, diskreditiert eigentlich die Debatte selbst. Die Rezeption von Deutschland schafft sich ab beweist, dass dieses Buch einen wichtigen Platz im öffentlichen Diskurs besitzt und die Versuche, das Gespräch abzulenken, zeigt bloß der Öffentlichkeit, dass die Mächtigen sich angesichts von Sarrazins akribischem Detail machtlos fühlen. Aber sie müssen sich nicht so fühlen. Nicht unbedingt! Wenn die, die von der Öffentlichkeit mit politischer Macht betraut worden sein, den Mut finden, den Argumenten Sarrazins rational zu begegnen, dann werden sie finden, dass die Diskussion, die sie lang vermieden haben, nicht nur von äußerster Wichtigkeit, sondern auch zu gewinnen ist.

 

Bibliografie

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  1. Eine gleichzeitige Umfrage (2010) hat auch gezeigt, dass ungefähr 20% der Wähler für eine Partei stimmen würden, die weiter recht ist als die CDU. Diese beide Ergebnisse umreißen ein AFD-förmiges Loch im deutschen öffentlichen Diskurs (Pham 2018)
  2. Laut Craig (1994) ist der Fruchtbarkeitsgrad der Ersetzung 2.1 Kinder pro Frau, während der deutschen Geburtenrate in 2016 1.6 Kinder pro Frau war, laut die OWZE, ohne Migranten von Biodeutschen zu unterscheiden: https://data.oecd.org/pop/fertility-rates.htm
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