Europa neu denken: Doch wie?

“All this energy inside me, I give it back to the people because only the people […] can change right now”.

Das ist ein Zitat der ehrenamtlichen Helferin Sarah Mardini, die in der Seenotrettung arbeitete. Ihre Verhaftung auf Lesbos ist ein Zeichen der scheiternden EU Politik und eine Niederlage ihrer Mitgliedstaaten. In dem Zitat betont Sarah, dass die Bevölkerung der Souverän ist und von ihr die Macht zur Veränderung ausgeht. In diesem Essay möchte ich der Frage nachgehen, in welchem politischen System die Teilhabe für die Bürger am Leichtesten ist und wie es möglich ist, gesamteuropäische Probleme zu lösen? Dafür werde ich die aktuelle EU mit der Utopie einer Europäischen Republik nach Guérot vergleichen.

Zunächst will ich die allgemeinen Charakteristika zur Teilhabe herausstellen. Damit ein Regierungssystem von seinen Bürgern verstanden und unterstützt wird, muss es laut Guérot nah an ihnen sein und gelebt werden können (siehe S. 138). Für eine Dynamik, in der die Bürger wissen, dass sie der Souverän sind, sind bürgernahe und transparente Strukturen essentiell. Um eine Verbundenheit mit den Institutionen herzustellen, werden Strukturen benötigt, die eine einfache Teilhabe und die Chance zur Veränderung bieten. Wenn der Staat leicht zu gestalten ist, ist es mehr Menschen bewusst, dass die Möglichkeit zur Veränderung in ihrem Handlungsspektrum liegt. Daraus entsteht ein Verantwortungsgefühl, mit der eigenen Macht sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Außerdem erhöht sich die Bereitschaft dazu, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen und aufmerksam zu beobachten. Souveränität und Teilhabe am politischen Geschehen können zum Bestandteil der eigenen Identität werden, wenn zugängliche Strukturen den Bürgern zeigen, dass ihre Stimme wirklich etwas zählt.

Im Status Quo ist erkennbar, dass viele EU-Bürger überhaupt keine Beziehung zur EU haben. Die EU wirkt anstrengend, bürokratisch und ineffizient. Die Wenigsten betrachten sie als einen relevanten Rahmen für ihr eigenes politisches Engagement oder eine politische Karriere. Ein Grund dafür ist, dass der EU wenig mediale Aufmerksamkeit beigemessen wird. Über EU-Politiker wird nur wenig auf nationaler Ebene berichtet. So wurde beispielsweise der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erst im Zuge seiner SPD-Kampagne wirklich bekannt und ausführlich von allen deutschen Medienkanälen beschrieben. Wenn überhaupt, wird die EU aus der Perspektive der verschiedenen Mitgliedstaaten und im Rahmen der nationalen Interessen betrachtet. Wenn es um die EU geht, geht es um die nationalen Vorteile, die aus ihr gezogen werden können. So werden die großen Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise und die wirtschaftliche Ungleichheit der Mitglieder nicht gemeinsam und füreinander gelöst. Die Solidarität in der Krisenbewältigung wird durch die Eigeninteressen der Mitgliedstaaten und der negativen Wahrnehmung der EU stark beeinträchtigt und oft vollkommen verhindert. Den Interessen der einzelnen Länder wird in der EU durch den Europäischen Rat viel Raum zugemessen. In ihm tagen die Minister der Länder und die Überstimmung durch das Europäische Parlament ist nur mit einer Zweidrittel – Mehrheit möglich. Dass die Vertreter der Staaten für deren Partikularinteressen eintreten, ist logisch, jedoch führt dies zur Verlangsamung der Entscheidungsprozesse. Keine gemeinsame Asylpolitik zu haben schadet allen Ländern, und trotzdem ist es nicht zu erwarten, dass die Minister von Orban und Merkel eine solidarische Einigung finden werden. „Die EU und die Nationalstaaten können einfach nicht beide souverän sein“ (Guérot, S. 84) und stehen deshalb im ständigen Konflikt über die Aufgaben- und Machtverteilungen. Dabei ist das europäische Parlament der einzige Weg für die europäischen Bürger zur direkten Teilhabe. Leider ist es aber im Vergleich zu den anderen Organen relativ machtlos und hat nur wenig Einfluss auf die Resultate der Politik. Da der Europäische Rat nur schwer zu überstimmen ist und Bürger nur innerhalb des Landes wählen können, wirkt das Parlament uninteressant, so dass für viele die Teilnahme an den Wahlen nicht lohnenswert erscheint. Das jetzige gemeinsame Budget zum Angleich der Länder ist überdies zu niedrig, um die finanziellen Unterschiede anzugleichen. Aus diesem Grund wird es mit den derzeitigen finanziellen Regelungen nicht möglich sein, die Machtunterschiede der Mitgliedsstaaten und das Gefühl der Benachteiligung der Bevölkerungen zu beenden. Es ist zu erkennen, dass das jetzige System der EU die europäische Bevölkerung nicht zur Teilhabe ermutigt. Auf Grund des medialen Diskurses in den Mitgliedsstaaten sehen viele Menschen die gesamtgesellschaftlichen Vorteile nicht mehr und die Bürger, die die EU als Konzept unterstützen, werden von den demokratischen Defiziten in ihrer Partizipation eingeschränkt. Traurigerweise ist also zu erkennen, dass die EU in ihrer aktuellen Gestaltung eine solidarische Integration der Mitgliedsstaaten und die engagierte Partizipation ihrer Bürger verhindert.

Die Auswirkungen eines unsolidarischen Europas in der Asylpolitik werden am Fall von Sarah Mardini erkennbar: Sarah ist eine ehrenamtliche Helferin der auf Lesbos ansässigen Seenotrettungs-NGO ERCI. Sie wurde am 21. August 2018 am Athener Flughafen festgenommen und befindet sich zur Zeit in Untersuchungshaft. „Von Spionage ist die Rede, von enger Zusammenarbeit mit Schleusern und damit verknüpft von Menschenhandel. Es geht nicht um Lappalien, sondern um Straftaten, auf die -, sofern sie nachgewiesen werden, – lange Haftstrafen folgen können“ (Süddeutsche Zeitung, 12.10.18).

Die Artikel der Süddeutschen und des Spiegels lassen viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Sarah Mardini selbst, ihr Trainer Sven Spannenkrebs (Sarah ist Leistungsschwimmerin),  ihre Schwester Yusra Mardini und die Bundesregierung erklären ihre Sicht ebendort ausführlich. Den griechischen Behörden jedoch wird kein Raum zugestanden, etwas zur Sachlage zu sagen. Dadurch entsteht beim Leser automatisch ein negativer Eindruck der Behörden und es bleibt unklar, weshalb sie sich dazu entschlossen haben, diesen Schritt zu tun. Auf der informativen Ebene ist das sehr bedauerlich, weil dem Leser kein objektives Bild vermittelt wird. Auf der politischen Ebene ist es jedoch noch weitreichender, da Griechenland zum singulär agierenden Täter gemacht wird.

In der medialen Darstellung ist erkennbar, was auch im Allgemeinen ein Problem der deutschen Medien ist. Es wird eine wenig kritische, unreflektierte Haltung eingenommen, wenn es um das Verhalten Deutschlands in der EU geht. Die Frage, ob und wie Deutschlands Rolle ein Faktor für Sarahs Verhaftung ist, wird nicht gestellt. Griechenlands Verhalten ist ein Zeichen der Verzweiflung und Überforderung, das aus der geringen Hilfe der anderen Mitgliedsstaaten erfolgt. Deutschland, als eines der einflussreichsten Länder innerhalb der EU hat somit eine Mitschuld an Sarahs Situation. Es gibt vielerlei Gründe, die zeigen, dass die anderen Staaten kein wirkliches Interesse an der Unterstützung Griechenlands haben. So wurde das Dublin-Abkommen abgeschlossen, um die Interessen der mächtigen Mitglieder wie Frankreich und Deutschland zu wahren. Durch die Regelung ist es ihnen möglich, so wenig Flüchtlingen wie möglich Asyl zu gewähren. Die Irrelevanz der Wünsche der Peripherie sieht man auch daran, dass trotz Gipfeln und Krisenbesprechungen keine solidarische Asylpolitik, die maßgeblich entlasten würde, existiert. Den anderen Staaten ist es bewusst, wie schlimm es in der Peripherie aussieht. Alle kennen die Zahlen und die Bilder der Toten im Mittelmeer, der Überfüllung der Inseln und die alltägliche Misshandlung und wirtschaftliche Ausnutzung von Flüchtlingen. Dass Flüchtlinge für einen Hungerlohn in Italien in der Landwirtschaft illegal arbeiten müssen und dass mehrere Bürgermeister von Inseln verzweifelt um Hilfe bitten, ist und bleibt ohne Folgen. Aus Sicht der anderen Mitgliedsstaaten ist das Hauptziel der Asylpolitik nicht das Bewahren der Menschenrechte, sondern die Befriedigung des Wählerwillens von Sicherheit und dem Aufrechterhalten einer noch nie existenten Leitkultur. Die Artikel schaffen es nicht, diese Problematik zu beschreiben und lassen dadurch Deutschlands Weste fleckenlos erscheinen. Die Wut über das unreflektierte Verhalten Deutschlands ist einer der wenigen, einigenden Faktoren innerhalb der EU. Sowohl die Peripherie als auch die Visegrád-Staaten nehmen Deutschlands Benehmen als rücksichtslos und selbstgerecht war. Der Ton, mit welchem Deutschland die anderen Staaten an das Einhalten der Regeln erinnert, ist häufig arrogant und trifft auf Kritik und Ablehnung. Die Wut und Missgunst von Seiten der anderen Mitgliedstaaten ist mehr als berechtigt, da die Europäische Kommission in den meisten Strafverfahren gegen Deutschland ermittelt.

Das aktuelle System der Krisen- und Problembewältigung scheitert an der freiwilligen Solidarität, auf dem es basiert. Die Mitgliedstaaten haben nur ein begrenztes Interesse an der Unterstützung der anderen und priorisieren ihren Selbsterhalt und Status. Guérot hat dieses Problem erkannt und argumentiert für eine europäische Republik, in der alle Regionen die gleichen Rechte und Pflichten haben. Europa würde zu einem „flachen, horizontalen, dezentralen Netzwerk aus Regionen und Städten unter dem gemeinsamen Dach einer Republik“ (S.24) werden. Der Fokus in diesem Europa läge dabei auf dem Gemeinwesen (siehe S. 23) und dem Sicherstellen der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichheit. Wichtige Maßnahmen dafür sind das gleiche Wahlrecht für alle europäischen Bürger („one man, one vote“) und die Digitalisierung von Abstimmungen. Ein Sicherheitsnetzwerk für alle Bürger soll kreiert werden. Es basiert auf den gleichen Versicherungskosten für alle und einer sozialen Grundsicherung (siehe S. 122). Dadurch gäbe es für alle Regionen der Republik die Sicherheit, im Notfall aufgefangen zu werden. Außerdem könnten die Regionen mit schlechten Bedingungen schnell wieder aufholen und wären nur kurzfristig eine finanzielle Belastung für die anderen. Unter diesen Gegebenheiten wäre es unwahrscheinlich, dass Regionen dazu gezwungen wären, für ihren eigenen Wohlstand und ihre Sicherheit kämpfen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass die Auswirkungen auf die Teilhabe der Bürger in der Europäischen Republik im Vergleich zur aktuellen EU sehr positiv wären. Die Europäische Republik hätte durch die genannten politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen das Potential, größeres Vertrauen in die Institutionen zu schaffen. Gleichzeitig erlangten die Bürger das Gefühl, in einem System zu leben, das sie respektiert und finanzielle Vorteile bietet. Die Umstrukturierung des Wahlrechts und der digitalen Partizipation steigerte die Bereitschaft der Bürger zur Teilhabe und zum Engagement.  Wie wäre also die europäische Republik mit Sarah umgegangen? Meine Thesen dazu möchte ich in einem Gedankenexperiment darstellen: Zunächst einmal wäre es unwahrscheinlicher, dass eine Region wie Griechenland aus Verzweiflung zu so extremen Mittel gezwungen wäre. In einer Republik, in der alle die Verpflichtung gehabt hätten, einen Anteil der Geflohenen aufzunehmen, wäre keine Region in so eine Notlage gekommen. Selbst wenn es zu dem Fall kommen würde, dass eine ehrenamtliche Helferin wie Sarah von einer örtlichen Behörde verhaftet wird, wären wahrscheinlich die Haftbedingungen anders. Die Aufmerksamkeit der Bevölkerung würde es den Behörden erschweren, solche Maßnahmen wie zum Beispiel die Verlängerung der Untersuchungshaft durchzusetzen.

Die Europäische Republik klingt verlockend und nach einer echten Alternative. Gerade in einer Zeit, in der viele die EU und ihrer Institutionen aus gutem Grund hinterfragen. Die Schlussfolgerung aus der Utopie der Europäischen Republik muss nicht sein, dass wir die aktuelle EU und das Konzept der Nationalstaaten verwerfen und aufgeben. Ein realistischerer Ansatz ist es, durch nationale und europäische Parlamentswahlen für Guérots Vorschläge zu stimmen. Die Existenz einer europäischen Grundsicherung oder Reformen der Wahlen sind nicht an die Republik gebunden und können auch schon heute errungen werden!

Literatur

         Christides, Giorgos, and Lukas Eberle. “Flüchtlingshelferin Sarah Mardini: Von Der Heldin Zur Verdächtigen – SPIEGEL ONLINE – Politik.” SPIEGEL ONLINE, SPIEGEL ONLINE, 1 Sept. 2018, www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-fluechtlingshelferin-von-der-heldin-zur-verdaechtigen-a-1225920.html.

         Germany, Süddeutsche.de GmbH Munich. “Geflohen, Gefeiert, Verhaftet.” Süddeutsche.de,

           Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingshelferin-geflohen-gefeiert-verhaftet-1.4110188.,  Guérot Ulrike. Warum Europa Eine Republik Werden Muss! Eine Politische Utopie. Dietz, 2016.

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