Die unsichere Sicherheit: Eine Untersuchung von Baumanns Sicherheitskonzept in verschiedenen Kontexten

In einem seiner letzten Essays Die Angst vor den Anderen (2016) warnt der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman den Leser vor den Effekten der Versicherheitlichung (securitization). Während des Lesens von diesem Aufsatz haben wir, eine niederländische und eine israelische Studentin, Baumanns Verständnis von Versicherheitlichung auf verschiedene Weisen betrachtet. Wir haben bemerkt, dass wir verschiedene Assoziationen mit diesem Konzept haben. Das heißt, für eine niederländische Staatsbürgerin mag es ein relevantes aber eher abstraktes Konzept sein, wohingegen eine israelische Staatsbürgerin das Stichwort Versicherheitlichung mit dem täglichen Leben in Verbindung bringt. Laut Bauman gibt es einige Aspekte, die den bekannteren Begriff „Sicherheit“ von dem unbekannteren Begriff „Versicherheitlichung“ unterscheiden. Wir haben die Definition von „Sicherheit“ aus dem Shorter Oxford English Dictionary übersetzt, hier wird mit „Sicherheit“ ein Zustand beschrieben, in dem man „Vor Gefahr geschützt oder keiner Gefahr ausgesetzt ist.” Unter „Versicherheitlichung“ versteht Bauman „die immer häufigere Subsumption von etwas, das bislang einer anderen Gruppe von Phänomenen zugeordnet wurde, unter die Kategorie der insecurity, der Unsicherheit“ (S.28). Das bedeutet, dass etwas, das bisher noch nicht unbedingt als bedrohlich erkannt wurde, aus dem einen oder anderen Grund nun als bedrohlich empfunden wird und entsprechende Maßnahmen erfordert. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Begriffs Versicherheitlichung ist, dass er vor allem von Politikern und Journalisten gebraucht wird.

Nach unserem Verständnis hat Versicherheitlichung viel mit der Kontrolle eines Staates oder einer Institution zu tun und mit dem Wunsch, etwas kontrollieren zu können, was als bedrohlich betrachtet wird. Die Grundvoraussetzung für Sicherheit ist, dass man sich sicher fühlen soll. Wir stimmen jedoch mit Bauman überein, dass diese Frage viel komplexer ist. Unser Interesse an diesem Essay besteht darin, Fälle zu untersuchen, in denen Sicherheitsfragen für andere Zwecke instrumentalisiert werden. Unsere Beispiele für diese Fälle sind die von Thomas de Mazière entwickelte Technologie der Gesichtserkennung, die er in Berlin hat installieren lassen, trotz der Kritik an der Privatsphäre. Außerdem werde ich (Tamar) ein Beispiel aus meinem Heimatland Israel für das Versagen von Sicherheitsmaßnahmen anführen. Im Falle Israels ist die Debatte über Versicherheitlichung sehr lebhaft, doch wird sie insbesondere während des Krieges auf eine Weise benutzt, vor der Bauman gewarnt hat. Hier steht “Sicherheit an erster Stelle” und über der Ethik. Jede politische Aktion, jeder Akt des Kriegs soll der Sicherheit dienen und wird so gerechtfertigt, obwohl im Grunde die Sicherheit aller Beteiligten untergraben wird. Jetzt wollen wir uns aber zuerst mit Merkels Migrationspolitik befassen und sie mit Baumans Text in Verbindung bringen.

Um den Versicherheitlichungsbegriff konkreter fassen zu können haben wir weiter recherchiert und sind auf einen englischen Text – „Control’ is the new core of Germany’s refugee policyvon Al-Jazeera gestoßen. Thorsten Benner berichtet von Merkels Besuch in nordeuropäischen Ländern in diesem Artikel. Durch die Arbeit an diplomatischen Beziehungen zu diesen Ländern versucht Merkel, die illegale Migration in die EU zu reduzieren. Merkel will dafür sorgen, dass sich eine Situation wie die von Deutschland im Sommer 2015 nicht wiederholt. Die ständige Ankunft von Migranten und Geflüchteten in der EU wird oft als neue Bedrohung empfunden, und die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Kontrolle über Migranten zu gewährleisten, können als eine Form der Versicherheitlichung angesehen werden. Zu den Maßnahmen gehören die Suche nach Kooperationspartnern durch diplomatische Beziehungen, strengere Grenzkontrollen und auch finanzielle Ausgaben für den Schutz von Flüchtlingen im Nahen Osten und Afrika durch die entsprechenden Organisationen.

Ein weiterer und ebenso interessanter Aspekt der Versicherheitlichung, der auch in Benners Artikel erwähnt wird, ist die Notwendigkeit, den EU-Bürgern zu zeigen, dass die EU die Kontrolle über ihre Grenzen hat. Laut Benner ist die Kontrolle der Grenzen eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der politischen Bereitschaft, Geflüchtete in Deutschland aufzunehmen. Er sagt, dass Umfragen darauf deuten, dass die Aufnahme von Geflüchteten in einem kontrollierten Prozess weiterhin unterstützt wird, aber dass sie in ihre Heimatländer zurückkehren sollen, sobald ihre Länder wieder in Sicherheit sind.

Da die Quellen dieser Umfragen nicht zitiert werden, haben wir uns die Frage gestellt, welche Art von “Grenzkontrolle” diese Deutschen, die Benner in seinem Artikel zitiert, sich wünschen. Was sind die Voraussetzungen für diese Kontrolle? Bezieht dieser Artikel sich auf die Kontrolle der deutschen Grenzen oder auf die Grenzen der gesamten EU? Vielleicht geht es um die Gewährung des Zugangs nur von bestimmten Menschen? Oder beziehen sich die Grenzkontrollen vielleicht auf eine erhöhte Bürokratie, die mehr Papierkram oder Dokumente oder Geld erfordert? Welche Art von Maßnahmen erwarten die Menschen, um sich sicherer zu fühlen? Weil die Frage unbeantwortet bleibt, kann davon ausgegangen werden, dass verschiedene Personen wahrscheinlich unterschiedliche Dinge meinen und wünschen.

Es ist jedoch auch möglich, dass jemand den Wunsch äußert, mehr Kontrolle zu haben, um sich sicherer zu fühlen, ohne einen konkreten Sicherheitsplan zu haben. Hier ist Baumans Theorie sehr wichtig, weil er die Idee der Versicherheitlichung nicht nur in Bezug auf die tatsächlichen Maßnahmen, die man treffen kann um sich sicher zu fühlen, analysiert. Sondern auch und vor allem in dem Sinne, dass Versicherheitlichung oft zu einem eigenen Wert wird, der von bestimmten Behörden ausgenutzt werden kann, wenn sie die reale Angst vor Menschen ansprechen. Versicherheitlichung kann auch als ein Werkzeug benutzt werden, um Angst in Menschen zu erzeugen. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Wahlkampfzeit in Israel. Es ist allgemein bekannt, dass es einen Zusammenhang zwischen anstehenden nationalen Wahlen und militärischen Operationen gibt, die Israel zu diesen Zeiten initiiert.

Benyamin Netanyahu erinnert seine Wähler und die Bürger Israels oft daran, dass Sicherheit die oberste Priorität haben sollte – und sonst nichts. Sicherheit scheint wichtiger als Politik zu sein. Netanyahu erinnert uns daran, dass wir das “Leben” nicht vergessen sollten. Es gibt keinen Platz für politische Positionen auf der rechten oder linken Seite, wenn das eigene Leben und die Existenz des Landes ständig bedroht werden. Während Netanjahu der Sicherheit gegenüber der Politik Priorität einzuräumen scheint, gelingt es ihm, als der einzig kompetente Leiter des Staates zu erscheinen, obwohl seine Sicherheit oft zu Gewalttätigkeiten führt. Baumans Analyse der Versicherheitlichung erlaubt uns, seine Theorien auf diesen Fall anzuwenden. Laut Bauman wird etwas zum Gegenstand von Versicherheitlichung, sobald es als unsicher klassifiziert wird: „das betreffende Etwas [fällt] geradezu automatisch in den Zuständigkeitsbereich und unter die Aufsicht der Sicherheitsorgane…“ (28).

Ein anderes Beispiel für eine vergebliche (oder falsche) Sicherheit kann in Thomas de Mazierès Gesichtserkennungstest gesehen werden. Kerstin Demuth, die Sprecherin der Datenschutzaktivistengruppe Digitalcourage, sagte der Deutschen Welle in einem Artikel über den in Berlin praktizierten Gesichtserkennungs-Survey-Test folgendes: „identification software is dramatically on the rise where less serious crimes are concerned and where it is commercially useful.” 1 Der Gesichtserkennungstest wurde vom ehemaligen Innenminister Thomas de Mazière (CDU) ins Leben gerufen, um gesuchte Terroristen oder Menschen, die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen, zu erkennen. Obwohl der Test von Datenschützern und Politikern als ziemlich nutzlos kritisiert wurde, da sehr oft Menschen fälschlicherweise identifiziert werden, und da der Test das Recht des Einzelnen auf Privatsphäre verletzt, sprach De Mazière, dass „die Gesichtserkennung […] ein Sicherheitsgewinn” sei. 2Laut Bauman nutzen Politiker nur zu gern „die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks. Sie erleichtert ihnen ihre Aufgabe, sichert ihren Aktionen schon im Voraus verbreitete Zustimmung (wenn auch nicht die versprochenen Wirkungen) und hilft ihnen, die Wähler zu überzeugen, dass sie deren Beschwerden ernst nehmen und unverzüglich dem Mandat gemäß handeln werden, das aus diesen Beschwerden vermeintlich folgt” (S.29). Wenn De Mazière sagt, trotz aller Kritik, dass die Gesichtserkennung ein Sicherheitsgewinn sei, ohne in angemessener Weise erklärt zu haben, was die Bedrohung überhaupt ist, sollte man kritisch nachfragen: Was sind die wahren Gründe für die Einführung der Gesichtserkennung? Auch wenn de Mazières Absichten die Menschen dazu bringen sollen, sich sicherer zu fühlen, sollte man sich fragen, ob sein Versuch erfolgreich ist.

Wir sehen anhand der angesprochenen Beispiele, dass die Versicherheitlichung in verschiedenen Formen vorkommt, und man sollte nicht vorschnell davon ausgehen, dass es etwas ist, das von oben aufgezwungen wird, ohne die Wünsche der Menschen zu berücksichtigen, die davon betroffen sind. Baumans Vorstellung, dass Versicherheitlichung zu einer Art Wert an sich wird, der viele Handlungen rechtfertigt, die keinen praktischen oder ethischen Sinn haben, scheint besonders wahr zu sein, wenn man Thomas De Maizières kontroverse Politik, und Benyamin Netanyahus Interesse am Krieg betrachtet, um an der Macht zu bleiben. Wer sind die Opfer ihrer Versicherheitlichung? Wie sicher fühlen wir uns wirklich mit diesen Maßnahmen im öffentlichen Raum? Wie werden diese Maßnahmen von Politikern genutzt und was meinen wir, wenn wir von einem Bedürfnis nach mehr Kontrolle sprechen? Dies sind Fragen, die bei der Diskussion über die Versicherheitlichung in der Öffentlichkeit angesprochen werden sollten.

 

  1. http://www.dw.com/en/facial-recognition-surveillance-test-extended-at-berlin-train-station/a-41813861  
  2. De Maizière: Gesichtserkennung ist ein „Sicherheitsgewinn“ , Berliner Zeitung https://www.bz-berlin.de/berlin/tempelhof-schoeneberg/de-maiziere-gesichtserkennung-ein-unglaublicher-sicherheitsgewinn
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