Eine Frage des Fokus
Geschichten und Gesichter. Sie sind kraftvoller als Fakten. Es interessiert nicht viel, dass der Antisemitismus unter Einwanderern nicht signifikant höher ist als bei deutschen Bürgern. Mehr interessieren die Schlagzeilen über Araber und Muslime, die antisemitische Parolen äußern und einen unsterblichen, fast genetisch bedingten Hass auf Juden hegen. Diese Geschichten schreiben die Medienlandschaft Deutschlands und sie sind es, die die Köpfe der Menschen füllen werden, die ersten Gesichter, die erinnert werden.
Der Antisemitismus in Deutschland ist real. Überall auf der Welt. Er bewegt Menschen zu menschenfeindlichen Gewalttaten, Gewalt in Sprache und Umgang. Wenn jemand auf Grund seiner Religion diskriminiert wird, muss es Aufschrei geben – von allen Seiten: religiösen und nicht religiösen Mitbürgern. Der Islam gibt mir die Verantwortung, stets für Gerechtigkeit einzustehen, auch wenn sie gegen mich selbst sprechen würde oder gegen nahe Verwandte und Freunde. Gerechtigkeit hat keine Religion, keine Rasse und keine Nationalität. Wenn ein Jude auf der Straße beschimpft und attackiert wird, dann ist die Tat genauso schwer und scharf zu verurteilen, wie als wenn ein Muslim oder ein nicht religiöser Mensch attackiert werden würde. Gerechtigkeit hat keine Religion, deshalb muss zu Menschen mit und ohne einer Religion gestanden werden.
Geschichten und Gesichter. Sie sind kraftvoller als Fakten. Es interessiert nicht viel, dass der Prophet Mohammed aus Ehrerbietung und Respekt aufstand, als ein jüdisches Mädchen im Sarg an ihm vorbeigetragen wurde. Es interessiert viel mehr, wie antisemitische Araber und Muslime Hinweise darauf geben, dass der Islam Nährboden für Antisemitismus sei.
Der wichtigste Erkenntnisgewinn ist, dass Geschichten viel mächtiger und einflussreicher Narrative schreiben als Fakten und Statistiken. Narrative werden nicht nur durch Medien konstruiert sondern bestimmen weiterhin den Fokus, der medial gesetzt wird und damit entscheidend die Stimmung in der Gesellschaft. Wenn die Menschen täglich mit Hass konfrontiert werden, bestimmt dies irgendwann eine individuelle als auch kollektive Realität. Zweifelsohne ist es erforderlich und verantwortlich, Antisemitismus öffentlich zu diskutieren und diffamieren. Werden dies jedoch die dominierenden Diskurse, räumt man dem Hass und der Angst mehr Raum ein, als sie verdienen. Während man sich auf die Negativität im Land konzentriert, verwelkt der Garten der Liebe. Wir sind so beschäftigt, den Hass zu verstehen, zu entwurzeln, dass wir vergessen Samen im Garten der Liebe zu pflanzen und seine Blumen zu gießen, auf dass sie nicht verwelken.
Über die Jahre habe ich viele, schöne Blumen zum friedlichen muslimisch-jüdischen Zusammenleben sammeln dürfen. Ich durfte den Verein JUGA kennenlernen (jung, religiös, aktiv), bei dem junge Juden, Christen und Muslime gemeinsam interreligiöse Projekte führen.
Ich durfte ein Gedicht auf der Deutschen Schülerakademie im Jahre 2014 während des Gazakrieges verfassen und vorführen, bei dem mein jüdischer Seminarleiter einer der ersten war, der aufstand, um mir zu applaudieren.
Ich durfte miterleben, wie unsere jüdischen Nachbarn und meine Familie sehr gute Freunde wurden. Wie die Eltern uns ihren kleinen Sohn anvertrauten, auf den vor allem meine Mutter unentgeltlich aufpasste und den wir alle begannen zu lieben. Wir tauschten uns über unsere religiösen Feste und Riten aus, den Monat Ramadan, den Sabbat, den ich mir fasziniert und inspiriert zu einem meiner Samstage machen wollte, denn an diesem Tag durften unsere Nachbarn keine Elektrizität nutzen.
Wo sind diese Geschichten in den deutschen Medien?